einführung von thomas g. brunner

art station, isabella lanz, hochstrasse 28, 8044 zürich

Vernissage: Freitag, 5. Dezember 2008

Roland Schär, Bilder

Margrit Schärli, Objekte

Mit "so near so far" betitelte einst ein Jazz-Musiker seine CD. Wie jene Klänge, die in fernen Weiten zu verebben schienen, während sie einem unter die Haut fuhren, entziehen sich Roland Schärs Bilder der Greifbarkeit. Wo wir eine Sache, eine Form zu wissen meinen, entzieht sie sich gleichzeitig in eine nur zu ahnende schemenhafte Ferne, eine Tiefe, die so ungewusst bleibt wie die Konturen der Träume. Wie die zahllosen Versuche der Menschen, die Fülle, den Fluss der Erscheinungen mit Gedankenkonstruktionen zu erfassen, muten die scharf abgegrenzten Setzungen im Vordergrund an. Hinter ihrer Klarheit und Einfachheit lauert das Ungewisse einer Wirklichkeit, der man sich mit Beschreibungen und Vorstellungen zwar annähern, die man mit diesem Wissen aber nie berühren kann. Da bleibt immer diese Sehnsucht, die der Liebende kennt, ganz im Unerreichbaren anzukommen. Im Oszillieren dieser Unschärfen, in der Tiefe des Unberührbaren, Nicht-Einzuholenden atmet das Geheimnis, das die beidseitig bemalten transluziden Plexiglasplatten mit Faszination auflädt, uns hinter den klar umrissenen Formen im Vordergrund im Sog einer Dreidimensionalität versinken lässt, die sich laufend weiter ausdehnt, als die Dicke der Gläser vermuten liesse. Da ist etwas unendlich Anmutendes in diesen Tiefen, man ginge meilenweit und wäre doch keinen Schritt weiter. Was da in der Ferne leuchtet, bleibt eine Vision, die in den Vordergrund gerückt möglicherweise in der vermeintlichen Bekanntheit des Klaren verblasste.

Nicht nur die Positionierung der Farbe vor und hinter den Gläsern, auch ihre Materialität, die Art ihres Auftrags trägt wesentlich zur Entstehung dieser räumlichen Tiefenillusionen bei, Gegensätze stehen dicht beieinander, scharf umrissene, zum Teil pastos gemalte intensive Farbflächen überlagern hingehauchte, mit ihrer Nichtvorhandenheit kokettierende tuschefeine Farbspuren, die manchmal an sehr unscharfe Abzüge von Fotografien erinnern, Schleier von mit der breiten Seite eines flachen Pinsels backsteinartig gesetzen perlmutt schimmernden Zonen schaffen in manchen Bildern zusätzliche Zwischenebenen.

Davor, dahinter, dazwischen. Ganz dahinter kommt man nicht. Selbst dort nicht, wo das Dahinter wie in den meisten Bildern Roland Schärs einmal greifbar gewesen zu sein schien, denn meist befragt der Maler seine Erinnerung an öffentliche und persönliche Räume, die ihm einmal wichtig waren: Museumsräume, Wunderkammern, Häuser und oft auch die Unbegrenztheit suggerierende Weite der Landschaft. Einer Architektur der Erinnerung ist der Pinsel auf der Spur, das zu Erreichende ist längst vergangen und lockt doch wie ein künftig zu Eroberndes. Übertrifft denn die Erinnerung in ihrer Vielschichtigkeit das Wirkliche, fragen wir uns, und wünschten uns doch, diese Schemen, diese fata-morgana-artig flirrenden, in Traumnähe schwankenden Spiegelungen des Bewusstseins berühren zu können. Der Traum, die Illusion scheint das Wirkliche zumindest zu überhöhen, dort etwa, wo ein Ultramarin aus der räumlichen Tiefe besonders leuchtend eine ungeahnte Strahlkraft entfaltet, vielleicht auch unverzichtbarer Teil der Wirklichkeit zu sein. Zumindest Teil jeder individuellen Wirklichkeit, denn wer könnte es leugnen, dass die inneren Bilder permanent mit den äusseren interagieren, wir uns im Inneren bewegen, während wir uns im Äusseren wähnen? Wieviel Raum man dem Traum zu gewähren bereit ist, bleibt ein Detail, wir träumen auch ohne es zu wollen. Die Gleichzeitigkeit von Aussen und Innen, gelebt und geträumt zu visualisieren ist ein Verdienst von Roland Schärs Bildern, die ein Entweder - Oder als eine Vereinfachung entlarven. Sie nähern sich der Sehnsucht, das Wirkliche als Ganzes zu umfassen. Wie das Du, wie das Erinnerte ist das Wirkliche zum Geheimnis geworden, das sich nicht begreifen lässt, aber vielleicht umarmen und bergen.

In seinen Phasen so unberührbar wie das Geheimnis, wenn auch von Astronauten betretbar, ist der Mond. Mal ist er da, mal ist er nicht da. In Asien steht er für das umfassende, in den Erscheinungen sich ausfaltende Geheimnis, die Wirklichkeit, wie sie ist. Da ist auch diese Gleichzeitigkeit des Da und Nicht-Da, offenbar und verborgen. Mit den Mondphasen, diesen Zustandsveränderungen einer Kugel, war Roland Schär beschäftigt, als er in Asien Margrit Schärli begegnete. Einmal sind es auch zwei Kugeln oder eine Kugel und der Schatten einer Kugel, die in ihrem Sich-Überschneiden die bekannte Sichel formen. Sie ruhen still in sich, diese Himmelskörper, sie drehen sich unendlich leise, unmerklich, sie werden plastisch modelliert vom Licht und vibrieren in derselben Spannung von Nähe und Ferne wie die Raumbilder, ohne uns so sehr in die Tiefe zu ziehen, vielleicht, weil der Mond eh weit entfernt ist und in diesen Bildern der Nähe der Bildträger wegen selten nah. Der Mond, dieser in seiner Allgegenwart so unstet wirkende Trabant, trägt uns hinüber nach Asien.

Von Reisen durch Thailand, Laos und Kambodscha inspiriert sind die fragilen, leichten, filigranen Objekte von Margrit Schärli. An Östliches erinnern verwendete Materialien wie Bambusstäbe, handgeschöpftes Papier aus Laos und von der Künstlerin selbstgeschöpfte Papiere, an die aufgehende Sonne denken lassen planzen- und pagodenhafte Formen, Türme. Manches scheint einen Tempel anzudeuten und manches sein Inneres: verborgene, Geheimnisse verkörpernde Schätze. Doch der Tempel birgt nicht die Traditionen einer bestimmten Religion, er beherbergt einige Geheimnisse eines einzelnen Menschen. Geheimnisse, die ihrer Individualität zum Trotz auch ins Überindividuelle münden, denn in jenen Innenräumen, die uns allen gemeinsam sind, verschwimmen zuweilen die Grenzen, das Du wird zum Ich und den eigenen Traum träumte zuvor oder gleichzeitig eine andere. Kultisch und einer kollektiven Überlieferung entstammend wirkt deshalb manches Objekt   gerade dort, wo es Persönlichstes berührt. Mit unsichtbaren Fäden bleibt jede individuelle Mythologie mit den kollektiven, Kulturen übergreifenden Bildern verknüpft. Rührt von daher jene Ehrfurcht, die manches dieser Objekte zu gebieten scheint, wo es in dieser Intimität der Nähe zu sich selbst Persönliches übersteigt? Wir glauben das Ritual zu kennen, von dem manche Gegenstände Relikte sind, erinnern uns vielleicht daran aus frühen   Kindertagen, in denen unser Spiel mit einer Blume die Weiten des Kosmos umspannte, erinnern uns vielleicht aus fernen Seelentiefen, die Bedeutungen erkennen, von denen wir längst nichts mehr wissen.

Unser Wissen angesichts dieser Gegenstände ist ähnlich beschränkt wie vor Roland Schärs Raumtiefen. Es geht das Wesentliche über das Denk- und Wissbare hinaus, wir brauchen die ganze unbekannte Weite unseres Seelenraumes, all unsere Wahrnehmunsorgane und Erkenntnisinstrumente, brauchen die manchem Denker so suspekte Intuition, es zu erahnen und fühlen uns ertappt, zutiefst berührt, wo wir im Fremden dem Eigenen begegnen. Es wartet die Krone auf die Königin, die merkt, dass es ihre ist. Dort, wo sie es merkt, sind wir im Innersten des Tempels, in jener kunstvollen Schachel, jenem prunkvollen Schrein des Geheimnisses. Bei uns selbst angelangt, sind die Tempel und Türme, die im Wind sich drehenden Schirme allenfalls Wegweiser zu etwas, das wir bestens kennten, hätten wir es nicht so gründlich vergessen gelernt. Die Bauten und tradierten Formen sind Teile von uns selbst, Teile unseres Körpers. In diesem freudigen Wiedererkennen vergisst man leicht, dass die weit stärker als die westliche auf das Kollektive ausgerichtete asiatische Kultur den eigenen Weg so sehr betont wie das Einmünden ins Überindividuelle. Tradierte Formen sind Sprachen, Hilfsmittel, sich über dieses höchst persönliche Unterwegssein und jenes Persönliches tranzendierende Wiedererkennen auszutauschen. Seltsam berührend, wie nah die Ferne dann wird, man verständigt sich über ein Bild, ein Gedicht über Jahrtausende, über Kulturräume hinweg. Was für ein Glück des Menschseins, dass es diese Begegnungen und diese Versuche des Mitteilens gibt.

Wenn eine Krone oder ein Schrein vielleicht ein Ziel andeuten, lassen uns die Tagebücher, Produkte schlafloser Nächte, mit ihren bemalten Zwischenkartons sehr nah am Puls des individuellen Unterwegsseins, an der Bewegung zwischen den Formen. Strukturen, Rhythmen, Formen tauchen auf, fliessen, entwickeln sich, verschwinden wie innere Bilder, Träume, Denkprozesse. Wir sind in diesen Blättern, die eine Ausstellung in der Ausstellung sind, in dieses Unterwegssein einbezogen, erleben mit, wie die zeichnende oder malende Hand, die Kreide, der Filzstift, der Pinsel denkt. Da und dort schwanken wir zwischen Weitergehen und Verweilen. Es ist kein Stillstand, es ist Rhythmus, Fluss in dieser dichten Abfolge von Bildern, sie sind ein Film von Befindlichkeiten, Aggregatszuständen, momentanen Bedingungen, auf den Augenblick, die flüchtige Zeit fokussiert, die Fragmente des Gegenwärtigen in den von innen strukturierten Ablauf der Zeit einbindend. Die Bücher bleiben dem Moment näher als die grösseren Objekte, die aus serieller Gegenwart wie dem Schöpfen einer bestimmten Papierform oder dem Aufschichten, Aufreihen von Orangen- oder Zitronenschalen eine Verdichtung von Zeit formen, die den Blick eher auf das Ganze des Objekts ausrichtet als auf die einzelnen Zeitfragmente. Etwas die Gegenwart Übergreifendes, aus Gegenwart Zeit Formendes, ist in beiden Arten des Unterwegsseins. Die Türme könnten Tempeltürme sein, doch sie ähneln oft auch sehr exotischen Pflanzen, modernen geometrischen Skulpturen, gewissen Bauten von Insektenvölkern und kühnen neuen Hochhausprojekten wie dem nicht gebauten Doppelhelixturm von Basel. Führen uns die Tempeltürme ins Innere oder eine imaginäre Vergangenheit, verkörpern die Hochhäuser eine zukunftsträchtige Dimension der Gegenwart.Sie uns bewohnt vorzustellen, beflügelt unsere Phantasie der Weiterentwicklung städtischer Lebensräume. Eine Architektur des Wandels, mögliche Architekturen der Zukunft stellt Margrit Schärli der Architektur der Erinnerung gegenüber. Aus skylines hervorquellende neue Formen von Geschäfts- und Wohntürmen, die den Primat des rechten Winkels durchbrechend organisch wirken, wie gewachsen in einer an Bambuskonstruktionen erinnernden Leichtigkeit dastehen. Sie sind nicht so warm wie die Tempeltürme, und doch bewohnte man sie gern. Dass da eines der Gesichter der Zukunft ist, weckt auch Aufbruchstimmung, Drang nach Vorwärts, Aussen. Auch wenn die pflanzenhaften Formen von innen her, aus dem Verborgenen wachsen.

Nach Innen weisen die Altare, die Opferstätten. Abrupt lassen sie die Zeit stillstehen, in kondensierte Gegenwart zusammenfallen, auch wenn sie Zeitabläufe verdichten wie andere Werke Margrit Schärlis. Die Gegenwart wird, wo wir uns vor ihr verneigen und in sie eingehen mögen, umwerfend intensiv. Wem geopfert wird, und was, wissen die Königinnen, die sich überraschend erinnern, wer sie sind. Wer sich bücken musste, um eine Teehütte zu betreten, weiss möglicherweise etwas darüber. In Asien pfeifen es die Spatzen von den Tempeldächern, doch auch dort kommt keiner und keine darum herum, sich selbst, sein oder ihr tiefstes Geheimnis zu befragen, worum es hier eigentlich geht. Mag sein, dass dort, in unserer innersten Herzkammer, alles ein wenig leichter wird, unsere Existenz, die Weltgeschichte, die Relativitätstheorie, Ja und Nein, die Erklärungen und Fragen locker im Wind schwingen wie die schwerelos wirkenden Bambuspanels vor den Fenstern, kleine Schirme drehen sich daran.

Eine angeregte Entdeckungsreise durch diese einander überlagernden, ineinander verschachtelten, ineinander übergehenden, vielleicht wie der Raum oder die Räume in sich gekrümmten Welten wünsche ich Ihnen, Euch. Aussen und Innen und vor allem beides gleichzeitig. Wo die fernste Ferne zur nächsten Nähe wird, endlos scheinende Distanz in sich zusammenfällt, versuchen wir vielleicht wieder darüber zu reden, auch wenn, wie Timothy Leary einst schrieb, jedes menschliche Wesen ein Raumschiff ist, Lichtjahre entfernt. Schauen wir durch die Fenster der anderen öffnet sich vielleicht eine Tür in einen gemeinsamen Raum.

Thomas G. Brunner

Zürich, 4.12.2008